Eine Geschichte und ihr Anfang… Überlegungen anlässlich des Essays von Antje Vollmer

 

 Es ist leider wahr, dass Vieles von dem, was unsereiner über Jahrzehnte als gegeben betrachtet hat, überraschend(!) in Frage gestellt wird. So gehörte es für mich zu den guten Entwicklungen, dass mit der Ära des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers Willy Brandt die Annäherung an die Sowjetunion und die osteuropäischen Staaten, die im Warschauer Pakt zusammengeschlossen(!) waren, unter der Formel „Wandel durch Annäherung“ bzw. „Wandel durch Handel“ die neue Ostpolitik eingeleitet wurde. Wenn ich richtig orientiert bin, ist das eine Erkenntnis, die bereits Montesquieu darlegte. Die ich im Grundsatz für richtig halte. Denn nur, wer im Gespräch ist, vor allem auch mit denen, die eine andere Meinung haben als man selbst, kann es zu einer Entwicklung kommen, die auch unterschiedlichen Interessen und Meinungen gerecht wird. Insofern kann ich dem Begriff „Zeitenwende“ wenig abgewinnen, der letztlich nichts anderes ist als ein Eingeständnis, Entwicklungen übersehen zu haben oder übersehen gewollt zu haben. Wenn man also die aktuelle Situation mit dem Angriff Russlands gegen die Ukraine betrachten möchte, muss man wohl genauer hinschauen auf die Entwicklungen im Osten Europas.

Ich muss gestehen, dass ich mich mit Außenpolitik bis zum Überfall Russlands auf die Ukraine nur allenfalls rudimentär beschäftigt habe. So habe ich es durchaus als Frucht dieser sog. Neuen Ostpolitik begriffen, dass es letztlich zur Auflösung der Sowjetunion kam. Dies geschah, wenn ich das richtig sehe, weitgehend friedlich, zwar noch am wenigsten im russländischen Bereich, sondern eher in den zum Warschauer Pakt gehörenden Ländern wie den baltischen Staaten, in Polen oder Ungarn. Außenpolitisch relevant war dann ja die Grenzöffnung Ungarns. In diesen Ländern gab es stärkere Demokratiebewegungen als in Russland. Diese Entwicklung war segensreich und ist für viele Menschen in vielen Staaten eine echte Befreiung gewesen. Aber ja: dass es zum Krieg Russlands gegen die Ukraine gekommen ist, gehört vor allem für die Menschen in Europa zum Schockierendsten der Gegenwart. Die absolut wichtige und richtige Frage ist deshalb: Wie kann es schnellstmöglich zu einem Frieden kommen?

 

Hier in Deutschland und vielleicht auch in anderen Ländern gibt es nicht nur eine große Sehnsucht nach Frieden, sondern es gibt geradezu einen erbitterten Streit darum, wie er zu erreichen sei, der nicht selten zu regelrechten Verletzungen selbst im privaten Umfeld führt. Nun hat Antje Vollmer einen Text vorgelegt, der viel beachtet wurde. „Das ist bewegend, das ist ergreifend, todernst und tiefschürfend, da verbietet sich jede Häme. Vielleicht lernt man an und mit Antje Vollmer, dass unsere Diskussionen über Krieg und Frieden bösartige Unterstellungen vermeiden müssen und die verächtliche Abwertung derer, die anderer Meinung sind.“ So Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung. Das ist richtig. Dennoch wird man auf Schwachstellen in der Argumentation Vollmers hinweisen dürfen, ja müssen, um nicht falscher Legendenbildung Vorschub zu leisten.

 

 

Wenn Vollmer schreibt, dass heute allenthalben gefordert werde zu bekennen, „wie sehr man sich geirrt habe im Vertrauen auf eine Phase der Entspannung und der Versöhnung mit Russland nach der großen Wende 1989/90“, so liegt hier ein Wahrnehmungsfehler vor, denn es ging 1989/90 nicht um eine Versöhnung mit Russland, sondern mit der Sowjetunion. Dabei wird leicht folgendes übersehen, worauf Gwendolyn Sasse hinweist:

„Über dreißig Jahre sind seit dem Ende der Sowjetunion vergangen. Ihr Zerfall ist wesentlich weniger friedlich verlaufen, als man gemeinhin denkt. Im Vergleich zur gewaltsamen Desintegration Jugoslawiens wirkten die Kriege um Bergkarabach, Transnistrien, Abchasien und Südossetien aus westeuropäischer Perspektive klein, obwohl in ihnen insgesamt Zehntausende starben und Hunderttausende vertrieben wurden. Und letztlich steht Russlands Krieg gegen die Ukraine ebenfalls im direkten Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der lange vor dem offiziellen Ende 1991 begann und bis heute nachwirkt.“ (Sasse, Der Krieg gegen die Ukraine)

Insofern ist es nicht richtig, wenn Vollmer schreibt: „Ich widerspreche der heute üblichen These, 1989 habe es eine etablierte europäische Friedensordnung gegeben, die dann Schritt um Schritt einseitig von Seiten Russlands unter dem Diktat des KGB-Agenten Putin zerstört worden sei, bis es schließlich zum Ausbruch des Ukrainekrieges kam.“ Denn der erste Fehler in diesem Satz ist ja schon, dass es 1989 nicht um Russland, sondern um die Sowjetunion ging. Der zweite Fehler besteht darin, dass mir die These, „1989 habe es eine etablierte europäische Friedensordnung gegeben“, in dieser Form noch nicht begegnet ist. Diese Friedensordnung hat es tatsächlich nicht gegeben. Wenn eine solche heute postuliert wird, scheint mir das eine rückwärtsgewandte Projektion zu sein. Im weiteren Verlauf ihres Essays schreibt Vollmer übrigens dann vom Zusammenbruch der Sowjetunion 1989, was korrekt ist. Wenn man aber gerade in dieser Phase Sowjetunion und Russland gleichsetzt, ergeben sich falsche Schlüsse, die für das Verständnis der heutigen Situation bedenklich sind. So halte ich die Einschätzung, dass der „Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 einseitig als triumphaler Sieg des Westens im Systemkonflikt zwischen Ost und West interpretiert“ werde für eine Sicht ex post. Für die Zeitgenossen, insbesondere die US-Präsidenten Bush und Clinton gab es diese Sicht nicht, sondern sie waren bereit und willens, insbesondere nach dem Ende der Sowjetunion, aus der als Haupterbe Russland unter Jelzin hervorgegangen ist, mit diesem auf Augenhöhe, wie man so schön sagt, zu kooperieren. Bush und Clinton überschlugen sich geradezu in ihrem Lob der Entwicklung in Russland. „Auch wenn westliche Politiker regelmäßig versuchten, sich die Lage schönzureden – Clinton erzählte nach einem Staatsbesuch von jungen Russen, die «intelligent, idealistisch und zutiefst der Demokratie verpflichtet» seien –, war das Ziel, Russland zu einer «stabilen europäischen Demokratie» zu machen, klar gescheitert. Stattdessen nährte die westliche Politik Instabilität und begünstigte die Rückkehr eines aggressiven, antiliberalen – und letztlich antiwestlichen – Nationalismus unter Jelzins Nachfolger Wladimir Putin, der dem Westen etwas mehr als eine Dekade später den Krieg erklärte.“ So Peter R. Neumann über die neue Weltunordnung. Dieser Beitrag der westlichen Politik zur Instabilität konnte allerdings auf brutalen ökonomischen und sozialen Problemen in Russland aufbauen, die erst ursächlich für das Ende der Sowjetunion waren und die sich nach ihrem Ende noch verschärft haben. Neumann weist auf einen durchaus unterschätzten Aspekt hin, der sich durchaus heute im Krieg Russlands gegen die Ukraine wiederfindet: „Doch die Unabhängigkeitserklärung Russlands löste keines der wirtschaftlichen Probleme. Im Gegenteil: Die plötzliche Aufspaltung des sowjetischen Binnenmarkts in fünfzehn unabhängige Staaten führte zum Zusammenbruch von Lieferketten und machte die Engpässe bei der Versorgung mit lebenswichtigen Gütern noch schlimmer.“ 

Was dann folgte, war vor allem wirklich brutal, da brauchte es gar kein Eingreifen „des Westens“: „Das Programm, das die Reformer [um Jegor Gaidar] ab Anfang 1992 in schneller Abfolge umsetzten, beinhaltete die Freigabe von Preisen und die schlagartige Privatisierung praktisch aller im Staatsbesitz befindlichen Unternehmen. Der Begriff, der dafür verwendet wurde, war «Schocktherapie».“ 

(…)

„Doch die Mängel des Reformpakets wurden schnell offensichtlich. Als Gaidаr und seine Mitstreiter am 1. Januar 1992 nahezu alle Preiskontrollen beendeten, um die leeren Warenregale zu füllen, lösten sie damit eine massive Inflation aus, die die Ersparnisse vieler Russen auf einen Schlag vernichtete: Im Januar allein stiegen die Preise um über 200 Prozent, bei Jahresende betrug die Inflationsrate 2500 Prozent. Genau zu diesem Zeitpunkt begannen die Reformer mit dem zweiten Schritt: dem Privatisierungsprogramm. Alle russischen Bürger bekamen Coupons, die sie bei Versteigerungen von Staatsbetrieben gegen Aktien eintauschen sollten. Aus Sicht Jelzins war dies ein historisch beispielloses Demokratisierungsprogramm, doch in der Praxis gab es nur wenige Russen, die davon profitierten.“ 

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„Die gesellschaftlichen Folgen des Reformprogramms waren katastrophal. In der ersten Hälfte der neunziger Jahre schrumpfte die russische Wirtschaftsleistung um mehr als 50 Prozent und sank damit unter das Niveau vieler Entwicklungsländer. Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung – ungefähr hundert Millionen Menschen – galten als arm. Viele verdienten sich ihren Lebensunterhalt, indem sie alte Kleidung, Töpfe, Bücher oder Kriegsmedaillen auf Straßenmärkten verkauften oder gegen Lebensmittel tauschten. Andere zogen aufs Land, verkrochen sich in ihre Datschen und bauten Gemüse an.“ 

(…)

„Ähnliches galt für staatliche Institutionen, auf die viele Russen bis dahin stolz waren. Von der sowjetischen Armee, die die Nazis im Zweiten Weltkrieg besiegt und den Amerikanern bis zum Schluss die Stirn geboten hatte, war drei Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nur noch wenig übrig. Jelzin hatte das Verteidigungsbudget um 75 Prozent zusammengestrichen, mehr als eine Million Soldaten entlassen und die verbliebenen Truppen zur «Selbstversorgung» verpflichtet“. (Neumann, Weltunordnung)

 

Ein grundlegende Schwäche der Argumentation Vollmers ist, dass sie die ökonomische und soziale Geschichte Russlands und „des Ostens“ nahezu ausblendet. Sie hebt vor allem darauf ab, dass Gorbatschow „die große Vorleistung des Gewaltverzichts“ erbracht habe. Ja, ich stimme zu, „dass gerade diese Gewaltfreiheit das größte Wunder in einer Reihe wundersamer Ereignisse war“. Das war tatsächlich eine bedeutende Leistung und ich war ebenso wie Vollmer enttäuscht über den „erschreckend private[n] Charakter der Trauerfeier“ für Gorbatschow. Allerdings ist dieser mehr oder weniger private Charakter auch Ausdruck dessen, wie er in Russland heute gesehen wird, nämlich im Großen und Ganzen als Verlierer, um nicht Verräter zu sagen.

Ob manche heutige Haltung, heute revidierte Haltung auf einem „billigen antirussischen Ressentiments“ beruht, wie Vollmer schreibt, halte ich in der von Vollmer gewählten Formulierung für Polemik aus Enttäuschung. Dass es durchaus Ressentiments in Deutschland gegen „den Osten“ gibt, halte ich nicht für überraschend angesichts dessen, was die nationalsozialistische Ideologie, die ja zu einem Gutteil auf Ressentiment gegen „den Osten“ beruhte, in den Köpfen von Deutschlandbewohnenden angerichtet hat. Dass es im ehemaligen Ostdeutschland, sprich der DDR nochmal ganz eigene Erfahrungen „mit Russen“, tatsächlich mit der sowjetischen Besatzungsmacht gab, soll der Vollständigkeit halber erwähnt werden.

Angesichts der aktuellen Lage stellt sich die Frage:

„Wie viel Verantwortung trug der Westen für all das [die Entwicklungen nach 1990 in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion]? In öffentlichen Debatten über diese Frage steht meist das Thema Nato-Osterweiterung im Vordergrund. Doch während der neunziger Jahre war der entscheidende Faktor in diesem Zusammenhang die katastrophale wirtschaftliche Situation im Land – und das Gefühl der Erniedrigung, das daraus folgte.“ (Neumann, Weltunordnung)

Neumann resümiert:

„Für [die ehemaligen Staaten des Warschauer Pakts, die nun in die EU und in die NATO strebten] stand nicht die Vision eines vereinten und demokratischen Europa im Vordergrund, sondern die Verteidigung der frisch gewonnenen Souveränität. Ihr Ansatz war nicht idealistisch, sondern instrumentalistisch. Wichtiger als die «europäischen Werte» war für sie der Zugang zu westlichen Märkten und die eigene Sicherheit. So empfanden viele Beitrittskаndidaten Russland bereits lange vor der Präsidentschaft Wladimir Putins als Bedrohung. Das galt besonders für Polen und die baltischen Staaten, die bis 1991 Teil der Sowjetunion waren.“ (Neumann, Weltunordnung)

Mit Gwendolyn Sasse kann man ergänzen: „1990 überstiegen die Auflösung der gesamten Sowjetunion, das Ende des Warschauer Pakts und die daraus resultierende Sicherheitspolitik unabhängiger ostmitteleuropäischen Staaten die gemeinsame Vorstellungskraft der an den Verhandlungen Beteiligten. Es wurde kein Vertrag geschlossen, der alle Eventualitäten der Zukunft abdecken konnte oder sollte.“ 

Genau auf diesen Webfehler weist auch Antje Vollmer hin, wenn sie schreibt: „1989 ist eine Ordnung zerbrochen, die man korrekter als „Pax atomica“ bezeichnet hat, ohne dass eine neue Friedensordnung an ihre Stelle trat. Diese zu schaffen, wäre die Aufgabe der Stunde gewesen. Aber die visionäre Phantasie Europas und des Westens in der Wendezeit reichte nicht aus, um sich das haltbare Konzept einer stabilen europäischen Friedensordnung auszudenken, das allen Ländern der ehemaligen Sowjetunion einen Platz verlässlicher Sicherheit und Zukunftshoffnungen anzubieten vermocht hätte.“ Diese Vision einer neuen Friedensordnung anzugehen, fehlte allerdings die Kraft, da die ökonomischen und sozialen Verwerfungen in den bald ehemaligen Staaten der Sowjetunion alle Konzentration erforderte. Und es gibt noch einen Aspekt, den es zu bedenken gibt. Denn einerseits war es wohl so, dass „die russische Wirtschaftsleistung um mehr als 50 Prozent und sank damit unter das Niveau vieler Entwicklungsländer“, aber zugleich die russische Föderation über eine militärische Macht verfügte, die sie mindestens ebenbürtig mit der NATO erscheinen ließ. Wir dürfen nicht vergessen, dass Ende der 1980er Jahre das Wettrüsten im Kalten Krieg neue Dimensionen erklommen hatte. Das hatte aber Konsequenzen für die Einschätzung des „russischen Bären“ durch die meisten ehemaligen Sowjetstaaten: „Nach 1991 formulierten dann die ostmitteleuropäischen Staaten auf der Grundlage ihrer Souveränität und sicherheitspolitischen Unabhängigkeit ihr Interesse an einer NATO- (und EU-)Mitgliedschaft und forderten diese Institutionen zu einer Neuorientierung heraus. (Sasse, Der Krieg gegen die Ukraine)

Hinzukam in dieser Phase, „dass sich die russische Gesellschaft polarisierte und der Kollaps der russischen Wirtschaft zunehmend Amerika, «dem Westen» oder «westlichem Einfluss» zugeschrieben wurde.“ (Neumann, Weltunordnung) Natürlich aus innenpolitischen Gründen, die dann Teil der Autokratisierung Russlands wurden.

 

Es scheint mir sehr wichtig zu sein, dass neben den gerade nachgezeichneten Entwicklungen man sich klar macht, dass es selbstverständlich nicht eine Kriegsursache gibt, wie Vollmer implizit suggeriert. „Vielmehr war es ein Geflecht von miteinander verbundenen Entwicklungen, die die notwendigen, aber nicht hinreichenden Bedingungen für den Krieg schufen:

·       die Autokratisierung Russlands verbunden mit wachsenden neo-imperialen Machtansprüchen

·       die Durchdringung der russischen Gesellschaft mit staatlicher Geschichtspolitik und Propaganda

·       die Demokratisierung und Westorientierung der Ukraine

·       die Stärkung einer staatszentrierten ukrainischen Identität

·       die zunehmende Diskrepanz zwischen westlichen und russischen Sicherheitswahrnehmungen

·       die wachsenden Widersprüche in der westlichen Russland-Politik

·       die sukzessive Ausweitung des Krieges seit 2014.

Erst in ihrem Zusammenspiel ermöglichten diese Dynamiken Russlands Krieg gegen die Ukraine, und Putin als Katalysator ließ diese Möglichkeit zur Realität werden.“ (Sasse, Der Krieg gegen die Ukraine)

 

Vollmers Sichtweise scheint mir typisch für den von Sasse beschriebenen Befund zu sein: „Die Tatsache, dass die Ukraine den meisten Menschen in Deutschland und Westeuropa bis zu diesem Krieg so fern erschien, hat viel mit einer undifferenzierten Sichtweise zu tun, die über dreißig Jahre nach 1991 die Sowjetunion gedanklich als Russland fortschreibt und dabei die anderen Sowjetrepubliken ausblendet. Der Imperialismus des russischen Zarenreichs und der Sowjetunion wirkt auch im westlichen Blick auf diese Region nach.“ 

(…)

„Eine demokratische, in westliche Institutionen integrierte Ukraine stellt für das autoritäre Russland unter Präsident Wladimir Putin eine Gefahr dar. Zum einen unterläuft die Ukraine den regionalen – und indirekt auch den globalen – Machtanspruch Russlands, der eine wichtige Legitimationsgrundlage des autoritären Systems ist. Zum anderen könnte dieses Modell der Ukraine auch für die russische Gesellschaft oder die Eliten zu einem Kristallisationspunkt für Hoffnungen und Erwartungen werden, die das existierende russische Staatsmodell von innen in Frage stellen. Es geht im Kern um Russlands autoritären Systemerhalt samt seiner neo-imperialen Machtprojektion.“ 

(…)

„In Russland wurden die Farbrevolutionen, darunter auch die Orangene Revolution, als vom Westen, vor allem den USA, gesteuerte Umsturzversuche wahrgenommen. Auch in der westlichen Berichterstattung und Debatte ist die Balance zwischen internen und externen Akteuren kontrovers diskutiert worden. Die Tatsache, dass Demokratieförderung von außen über einen langen Zeitraum erfolgte, die Massenproteste aber nur zu bestimmten Zeitpunkten stattfanden, hebt die Bedeutung interner gesellschaftlicher und politischer Dynamiken hervor, die letztendlich den Unterschied ausmachten. Die vergleichende Analyse der Farbrevolutionen zeigt, dass sie interne bzw. regionale Voraussetzungen benötigen, um ihre Wirkung zu entfalten. Demokratieförderung – bzw. Autoritarismusförderung – ist daher als eine Art Verstärker unter den richtigen innenpolitischen Bedingungen zu verstehen. Sowohl Oppositionskandidat Wiktor Juschtschenko als auch Kutschma-Favorit Janukowitsch erhielten 2004 finanzielle Unterstützung aus dem Ausland, der eine aus dem Westen, der andere aus Russland.“ 

(…)

„Ein wichtiges Element in den staatlich kontrollierten Diskursräumen [Russlands] ist eine in den letzten Jahren immer aktiver betriebene Geschichtspolitik, die eine selektive Erinnerungskultur bzw. Umdeutung der russischen und sowjetischen Geschichte betreibt und politische Ansprüche direkt aus ihr ableitet. Dem Zweiten Weltkrieg kommt in dieser Erinnerung eine Schlüsselrolle zu. Der verlustreiche Sieg über Nazi-Deutschland blendet die westlichen Alliierten der Sowjetunion immer mehr aus – bei den offiziellen Feierlichkeiten auf dem Roten Platz am 9. Mai 2022, dem Tag des Sieges über Nazi-Deutschland, wurde der Krieg gegen die Ukraine gar als Fortsetzung des Kampfes gegen den «Nazismus» dargestellt, den Russland inzwischen alleine ausfechten müsse. Die Bedeutung dieser geschichtspolitischen Diskurse samt ihrer Betonung der Kontinuitäten des russischen Patriotismus, der internationalen Größe Russlands und der «traditionellen Werte» in Abgrenzung vom Westen sowie die Fokussierung auf eine dem Staatsverständnis entsprechende Historiographie im nationalen Schulcurriculum sind in ihrer politischen und strategischen Bedeutung unterschätzt worden.“ (Sasse, Der Krieg gegen die Ukraine)

 

In einem Essay für die ZEIT stellte Putin 2021 seine Sicht dar:

„Die Schuld daran [dass es nach dem Ende des kalten Kriegs nicht zu einem neuen Europa kam] schrieb Putin allein der Osterweiterung der NATO zu. Durch sie seien die ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes und der Sowjetunion vor «die künstliche Wahl» gestellt worden, sich nach Westen oder gen Russland zu orientieren. Das sei einem «Ultimatum» gleichgekommen. Raum für eigenständige Entscheidungen der betreffenden Staaten gibt es in diesem Geschichtsbild nicht. Am Beispiel der «ukrainischen Tragödie von 2014» könne man die Folgen dieser westlichen Politik besichtigen, behauptete Putin. Den Euromaidan bezeichnete er als von den USA organisierten und von Europa unterstützten «bewaffneten verfassungswidrigen Staatsstreich». Putin sprach dementsprechend in einer Verdrehung der Tatsachen die Verantwortung für die Spaltung der Ukraine und den «Austritt der Krim aus dem ukrainischen Staat» den westlichen Staaten zu.“ (Sasse, Der Krieg gegen die Ukraine)

In seiner Rede am 21. Februar 2022 erklärte Putin relativ wortreich, dass es die Ukraine eigentlich gar nicht gebe, dass sie recht eigentlich eine Erfindung Lenins sei. Und weiter: „Man muss verstehen, dass die Ukraine im Grunde nie eine gefestigte Tradition einer eigenen authentischen Staatlichkeit hatte. 1991 machte sie sich daher daran, mechanisch fremde Modelle zu kopieren, die weder mit der Geschichte noch mit der ukrainischen Wirklichkeit etwas zu tun haben.“ 

 

 

All dem zum Trotz: Wenn Antje Vollmer schreibt…

"Ich erinnere mich an meine großen Vorbilder: Die härtesten Bewährungsproben hatten die großen Repräsentanten gewaltfreier Strategien immer in den eigenen Reihen zu bestehen. Gandhi hat mit zwei Hungerstreiks versucht, den Rückfall der Hindus und Moslems in die nationalen Chauvinismen zu stoppen, Nelson Mandela hatte äußerste Mühe, die Gewaltbereitschaft seiner jungen Mitstreiter zu brechen, Martin Luther King musste sich von den Black Panthers als zahnloser Onkel Tom verhöhnen lassen. Ihnen wurde nichts geschenkt. Und das gilt auch heute für uns letzte Pazifisten.

Der Hass und die Bereitschaft zum Krieg und zur Feindbildproduktion ist tief verwurzelt in der Menschheit, gerade in Zeiten großer Krisen und existentieller Ängste. Heute aber gilt: Wer die Welt wirklich retten will, diesen kostbaren einzigartigen wunderbaren Planenten, der muss den Hass und den Krieg gründlich verlernen. Wir haben nur diese eine Zukunftsoption.“

… dann hat sie recht in einem moralischen Sinn. Das Problem ist nur, dass Politik und die sie Vertretenden in Zeiten von Nationalismus, Egoismus und Bedrohungen durch die Natur etc. sich nicht um Moral schert, sondern nur die eigenen Interessen sieht. Dem sich zu stellen, ist die schwierige Aufgabe heute. Und das ist manchmal zum Heulen. So widerwillig ich das tue, aber ich muss dem alten Montesquieu recht geben, wenn er schreibt: „Das Leben der Staaten ist wie das der Menschen. Diese haben das Recht zu töten im Falle der Notwehr, jene das Recht, Krieg zu führen zu ihrer Selbsterhaltung. 

Im Falle der Notwehr habe ich das Recht zu töten, weil mein Leben mir gehört, wie dem, der mich angreift, auch sein Leben gehört. Ebenso führt ein Staat Krieg, weil seine Selbsterhaltung so berechtigt ist wie jede andere.“ (Montesquieu, Vom Geist der Gesetze)

Es macht einen traurig, dass es diesen Krieg gibt, denn jeder Krieg ist schrecklich. Aber ich weiß nicht, wie man ihn beenden könnte. Mit Appellen an die Nachgiebigkeit des überfallenen Lands wohl eher nicht.

Reinhard Mutz hat nach dem Überfall auf die Krim und den Donbass in den „Blättern“ 2014 geschrieben: „die russische Führung [muss sich] vorwerfen lassen, geltendes Recht missachtet und den Versuch einer politischen Problemlösung von Beginn an ausgeschlagen zu haben. Entschuldigungen gibt es dafür nicht, vielleicht jedoch Erklärungen.“ Genau diesen feinen Unterschied im Blick zu behalten, scheint mir, bei aller berechtigten Empörung, wichtig zu sein, wenn es eine Friedenslösung geben soll. 

 

 

Volker Heigenmooser, 6.3.23

 

 

Literatur:

·      Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, https://www.projekt-gutenberg.org/montesqu/schrifte/chap004.html

·      Mutz, Reinhard: Die Krimkrise und der Wortbruch des Westens, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 4/2014, S. 5 - 9

·      Peter R. Neumann: Die neue Weltunordnung, Wie sich der Westen selbst zerstört, Rowohlt Hamburg, 2022

·      Prantl, Heribert: Das Testament einer grünen Pazifistin, https://www.sueddeutsche.de/politik/prantls-blick-vollmer-gruene-pazifismus-1.5753116?print=true

·      Putin, Vladimir: „Wir erkennen die Volksrepubliken an“, Rede vom 21. 2. 2022, in: osteuropa, Russlands Krieg gegen die Ukraine, Propaganda, Verbrechen, Widerstand, 72. Jahrgang, Heft 1 – 3/2022, S. 119 - 127

·      Sasse, Gwendolyn: Der Krieg gegen die Ukraine, Hintergründe, Ereignisse, Folgen, C. H. Beck München 2022

·      Vollmer, Antje: Vermächtnis einer Pazifistin: „Was ich noch zu sagen hätte“, https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/ein-jahr-ukraine-krieg-kritik-an-gruenen-antje-vollmers-vermaechtnis-einer-pazifistin-was-ich-noch-zu-sagen-haette-li.320443