Peter Weiss über das "Böse"

Das Opfer und sein henker

Aus gegebenem Anlass stelle ich hier einen Text über Peter Weiss und sein Schreiben kurz nach dem 2. Weltkrieg ein, den ich 1992 in der Literaturzeitschrift "die horen" veröffentlicht habe: 

 

"Das Opfer und sein Henker" -

Peter Weiss als schwedischer Schriftsteller

 

Das Muster vom Henker/Opfer zieht sich durch das gesamte Werk von Peter Weiss und unterliegt doch durch den Autor einer radikal je umgewerteten Entwicklung. Der 1916 in Nowawes bei Berlin geborene Peter Weiss, der übrigens nie deutscher Staatsbürger war, mußte nach dem Sieg des Hitlerfaschismus als Sohn eines jüdischen Vaters in die Emigration gehen. Über Großbritannien, die Schweiz und die Tschechoslowakei kam das Opfer Peter Weiss zusammen mit seinen Eltern 1939 nach Schweden. 1946 wurde er an seinem 30. Geburtstag schwedischer Staatsbürger und blieb es bis zu seinem Tod am 10. Mai 1982.

 

„Von Insel zu Insel“

Aufgrund seiner Herkunft war Peter Weiss zum Opfer unmenschlicher Verfolgung geworden. Dies war ihm immer bewußt. Ebenso bewußt war ihm allerdings, daß er – hätte es ihm das System und die Ideologie des nationalsozialistischen Rassenwahns nicht unmöglich gemacht – Täter (Henker) hätte werden können. Für Weiss war im frühen Stadium seiner Entwicklung die Ambiguität Henker/Opfer eine anthropologische Konstituante.

„Wo auf dieser Erde schlummert nicht unerweckt der Henker und lauert auf seine Chance?“, fragte Peter Weiss 1947 und er meinte die Austauschbarkeit von Henker und Opfer, das Muster eines Gewaltverhältnisses, dem sich der Mensch in der bürgerlichen Gesellschaft nicht entziehen kann.

1947 erschien seine Prosagedichtsammlung „Från ö till ö“, zu deutsch „Von Insel zu Insel“, in Schweden. Die Insel ist dabei die Metapher für den gesellschaftlich abgeschiedenen Ort, in dessen Fokus sich menschliches Verhalten kristallisiert.

Weiss war an einem Ort angekommen, der ihn sein Leben lang nicht mehr losließ, sowohl biographisch als auch künstlerisch: Schweden. Peter Weiss fühlte sich unter einem starken Assimilierungsdruck in seinem Asylland Schweden. Er wollte nicht auffallen. Schnell eignete er sich die schwedische Sprache an und suchte Orientierung im schwedischen Kulturleben. Er fand sie bei den schwedischen Fyrtiotalisterna, den literarischen Vertretern der Vierziger Jahre, deren Themen Angst, Leere und Pessimismus waren.

 

Die Isolation als „sicherer Ort“

Seit einer kurzen kriegerischen Auseinandersetzung mit dem Nachbarn Norwegen 1814 hat das Königreich Schweden an keinem Krieg mehr teilgenommen. Auch während des 2. Weltkrieges befand sich das skandinavische Königreich offiziell in einem Zustand strikter Neutralität. Diese Politik, die schon während des 1. Weltkrieges Sicherheit für die Bevölkerung geboten hatte, sollte auch während des zweiten großen Völkermordens Unheit von den Landesgrenzen fernhalten. Doch ohne Gegenleistung war in der modernen Welt Neutralität nicht zu bewahren.

Das Königreich mußte es hinnehmen, daß die skandinavischen Nachbarn von Truppen der deutschen Wehrmacht überfallen wurden. Das Königreich verstieß sogar gegen die Verträge mit Finnland im sogenannten Winterkrieg 1939/40, der zwischen Finnland und der Sowjetunion tobte. Das Königreich nahm es hin, daß das faschistische Deutschland zeitweise äußerst massiv und scharf die eigene Souveränität verletzte.

Schweden lieferte während der Dauer des 2. Weltkrieges etwa ein Viertel des deutschen Erzbedarfes ins Nazireich. Das Königreich übernahm Truppentransporte der deutschen Wehrmacht über eigenes Gebiet hin, die der Unterdrückung des skandinavischen Nachbarn Norwegen dienten. Das Königreich nahm direkte und indirekte Eingriffe der deutschen Gestapo gegen Flüchtlinge hin, gegen Flüchtlinge, die meinten in Schweden Schutz gefunden zu haben. Erst nach der Niederlage der deutschen Wehrmacht vor Stalingrad drängte das Königreich den Einfluß der Deutschen zurück.

Diese schwedische Variante des Appeasements betrieb eine Sammlungsregierung aller schwedischen Parteien im schwedischen Reichstag, ohne die Kommunisten. Unter der Führung der Sozialdemokraten sollte die Idee eines Volksheims, des schwedischen Wohlfahrtstaats, verwirklicht werden. 

Die Mehrheit im Land unterstützte diese Politik, die Folgen hatte: Schweden gab um des äußeren Friedens willen den Anschluß an Europa und die Welt auf. Schweden begab sich in die Isolation. Die Isolation sollten den sicheren Ort garantieren. Gegen das Gefühl der Bedrohung und der realen Gefahr des Krieges hielten sich die Schweden regierungsverordnet und von der Intelligenz des Landes unterstützt in Bereitschaft. Schwedisch: beredskap. Vom „beredskapkamp, vom Bereitschaftskampf war die Rede, so als ob schon das Sich-in-Bereitschaft-halten selbst der Kampf wäre, der im Fall eines Angriffs erst zu führen gewesen wäre. Aber das kennzeichnete eben die Politik und die Lage in Schweden: Abwarten.

 

Dagerman und andere

Das Königreich blieb so direkt vom Krieg verschont, und das „Volksheim Schweden“ des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten und Hausvaters Per Albin Hanson bot zwar materiell ein Zuhause, aber geistig drohte das Land zu verdorren.

Angst vor als dunkel empfundenen Mächten, die die Menschen zermürben wollten, ohne daß sie sich wehren könnten, dominierte ihre Köpfe. Der spätere Literaturnobelpreisträger Eyvind Johnson hat das Verhalten der Mehrzahl seiner Landsleute in den Vierziger Jahren als „individualistische Reaktionen auf das, was um uns herum geschah“ beschrieben.

Und dennoch: Es gab auch in diesem kleinen stillgewordenen Land Aufbegehren und Widerstand. Dissidente Künstler sammelten sich beispielsweise um die kleine Zeitschrift „Fyrtiotal“. Fyrtiotal, zu deutsch: Vierziger Jahre, ist vorderhand nur die im schwedischen übliche Dezennieneinteilung der Literaturgeschichte. Tatsächlich bedeutet diese Bezeichnung mehr: es ist der manifest gewordene Modernismus in der schwedischen Literatur und Kultur.

Der Zweite Weltkrieg und der Faschismus wurden von den Vertretern des Fyrtiotal in ihren Auswirkungen auf das offiziell neutrale Schweden als Kultur-, Sinn- und Ideologiekrise erlebt. Diese wollten sie durch die Destruktion bestehender Wert und Glaubenssysteme bekämpfen. Verständlicherweise wurde diese Literatur von den herrschenden Kulturverwaltern und der Mehrheit der Kulturkonsumenten der Unbegreiflichkeit und des Pessimismus geziehen und es wurde versucht, sie auszugrenzen.

In und mit der neugeschaffenen Zeitschrift „Fyrtiotal“, deren Redaktionssekretär Stig Dagerman war, suchten sich die zumeist jungen Künstler zu verteidigen und zu verständigen. Als Flüchtling ohnehin schon Außenseiter, verband sich Peter Weiss mit dieser literarischen Avantgarde, zu deren hervorragenden Vertretern neben Stig Dagerman u. a. Gunnar Ekelöf, Erig Lindegren oder Lars Gyllensten gehörten. Weiss fand bei den Modernisten in Schweden die Fortführung eigener Erfahrungen, die zugleich die Leseerfahrungen mit dem Werk Franz Kafkas waren.

 

Die Quälgeister

„Von Insel zu Insel“ ist das Symbol für einen, der sich in einer Welt voller Kampf auf Leben und Tod nicht einmischen will, sondern auf Inseln der Isolation nur sich selbst und die Welt beobachten will. Es ist der Kampf zwischen Henker und Opfer im poetischen Ich. Aus dieser Position heraus verfolgt es scheinbar unbehelligt das Gezänk und Morden in der Welt. Doch es ist eben ein Schein, unbehelligt zu sein. Selbst die Insel des eigenen vermeintlich sicheren Zimmers wird von der draußen wirkenden Zerstörung heimgesucht, es verwest unter den Augen des poetischen Ichs. Das poetische Ich bei Peter Weiss leidet schon von Geburt an an einer Wunde, einer Wunde, die es (ihn) zum Opfer disponiert.

„Die Quälgeister kommen wieder, es sind viele, ich bin allein, muß mich fügen.“ Das Opfer sieht nur den Ausweg, selbst Henker zu werden. Das strukturelle Gewaltverhältnis bleibt so grundsätzlich unangetastet, es wird nur subjektiv umgedreht: „Quälen: welche Wollust! Der Quälende hat Macht, er herrscht. Er ist Herr über Leben und Tod.“

Das Opfer kann nichts anderes werden als selbst Henker. Und schließlich: die Opfer werden grausamer als die Henker. Peter Weiss faßt dieses Henker-Opfer-Muster poetisch verdichtet in einer Parabel zusammen: „Wir leben unser Leben hinter unüberwindlichen Mauern. Auf der einen Seite des Gefängnishofes liegt ein riesiger Berg von großen Steinen: diesen Berg auf die andere Seite des Gefängnishofes schaffen: das ist unsere Arbeit. Und wieder zurück. Und wieder auf die andere Seite. Und wieder zurück. Das dauert jedesmal eine Woche. Wir tragen die Steine auf Rücken und Armen. Die schwersten Steine transportiert ein großes Kriechtier über den Hof, bestehend aus den verschlungenen Körpern von sechs bis acht Männern.

Man sollte annehmen, dieses harte Leben würde uns in einem Geist unzertrennbarer Kameradschaft und Hilfsbereitschaft zusammenschweißen. Das ist aber nicht der Fall. Wir sind uns fremd. Wir verraten uns gegenseitig an die Wärter, um uns bei ihnen einzuschmeicheln. Wir stehlen uns gegenseitig die Hungerrationen. Wir freuen uns, wenn einer bei der Folter besonders übel zugerichtet wird: in der Regel werden wir anderen dann etwas schonender behandelt. Wir reagieren nicht auf die Hilferufe der unserigen.“

 

Das Labyrinth

Weiss sieht in den Vierziger Jahren nur geringe Hoffnung, die nicht auf das Verhalten des Henkers gerichtet ist. Der Henker selbst ist ja auch innerhalb der Mauer. Seine Unruhe und sein Unbehagen kommen aus der Erkenntnis, daß selbst im Opfer der Henker steckt. „Das große Labyrinth nimmt dich auf, die unendliche nächtliche Grotte, durchflutet von ihren schwarzen Wasserläufen: dort ertönt ein Perlen und Klingen von Wassertropfen und Sandkörnern durch tausendfach verzweigte Gänge. Keine deiner Fackeln kann das große unterirdische Reich erhellen, nur Steinwände, Steinwände glimmen auf: hohe Steinpfeiler, geformt und geschliffen in Jahrmillionen, erheben sich vor deinen Augen, seltsame Kristalle schimmern dir entgegen und immer weiter locken dich die murmelnden Quellwasser in die Tiefe. Rufst du um Hilfe, hörst du nur das tausendfache Echo deiner eigenen Stimme. Ziellos gehst du, bis alle deine Fackeln erloschen sind, bis zu hilflos tastend dem Abgrund folgst und hinabstürzt und zu Stein wirst unter Steinen.“

Diese Weiss’sche Lebensparabel des Labyrinths ist eine verzweifelte Feststellung der Sinnlosigkeit. Betrachten wir heute rückschauend die poetische Verarbeitung der Opfer-Henker-Determination in der Prosagedichtsammlung „Von Insel zu Insel“ von Peter Weiss, so sehen wir: Es war die Resignation vor menschlicher Schwäche, und es war die Verzweiflung darüber, daß selbst an einem so sicheren Ort wie Schweden keine Bereitschaft vorhanden war, sich dem um das Land herum tobenden Unrecht entgegenzustellen.

Weiss erlebte diese Regungslosigkeit als menschliche Schwäche. Diese hatte er ernst genommen und sie poietisch tief pessimistisch gestaltet. Doch die künstlerische Transzendierung enthob ich nicht der Wirklichkeit. An ihr war er weiterhin unmittelbar interessiert. Deshalb stellte sich ihm die Frage: Würde das Land Schweden, das in seinem Innern selbst – zugespitzt ausgedrückt – Henkersmentalität gezeigt hatte, würde dieses Land mit seinen Erfahrungen als Opfer selbst zum Henker werden, Henker am zum Opfer gewordenen ehemaligen Henker Deutschland?

 

„Die Besiegten“

Als der Krieg beendet war, reiste Weiss an den vormaligen Ort der Bedrohung, nach Deutschland, um dem vermeintlich sicheren Ort Schweden Nachricht zu geben. Er kam zwar als Reporter in das niedergeschmetterte Deutschland der Nachkriegszeit, aber nicht in der Post der Sieger. Er kam mit der Bereitschaft zur Empathie mit den Deutschen und zur Sympathie mit den Opfern unter ihnen. Peter Weiss geht es mit seinen Reportagen über die Besiegten um die Darstellung des Bösen schlechthin, dem die Menschen ausgeliefert sind, ihm geht es um den Verlust des Humanen und um die von ihm formulierte Frage: „Wo auf dieser Erde schlummert nicht unerweckt der Henker und lauert auf seine Chance?“

„Die Besiegten“ von Peter Weiss ist die poetische Verarbeitung seiner Reportagereise durch Ruinen-Deutschland, notiert für das schwedische Publikum. Peter Weiss hat mit seinen Reportagen, die für eine Tageszeitung geschrieben wurden, einen schwedischen Adressaten, er ist jedoch wegen der poetischen Verdichtung der Reportagen zum Buch „Die Besiegten“ stärker an der Allgemeingültigkeit seiner Mitteilung interessiert.

Der Beobachter muß der Versuchung widerstehen, aus der vormaligen Rolle des Opfers nun in die des Henkers zu schlüpfen. Der Künstler muss sich dem Unbequemen stellen: „Nie darf man vergessen, wer diesen Krieg begann. Nie darf man vergessen, wie Humanität und Würde in diesem Land in den Dreck gezogen wurden, und wie blind und kritiklos die breiten Schichten sich auslieferten. Aber hier darf man auch nicht vergessen, wie blind und kritiklos ein großer Teil der übrigen Welt blieb; wie gefühllos sich der Mensch, immer und überall, zum Leiden anderer stellt, wenn er sich selbst nicht mit ihnen identifizieren kann. Blindheit und Kritiklosigkeit sind die Erbkrankheit aller Menschen, der gefährlichste Bundesgenosse der Materie im Kampf gegen den menschlichen Geist.

Im Rahmen des realpolitischen Denkens wird auch das sogenannte Selbstmitleid angegriffen. Dieseer Angriff ist berechtigt, solange er sich gegen die verbreitete, im Innern verständliche Ansicht richtet, daß Deutschland es unter dem Nazismus besser hatte. Zynisch wird der Angriff, wenn er sich gegen den verzweifelten Notruf des Hungrigen richtet. Falsch wird er, wenn er (wie bei Thomas Mann) generalisiert und den stummen Kampf der Millionen vergißt, wenn er die Mutter vergißt, die im Kellerloch versucht, die Überreste ihrer Familie zusammenzuhalten, den Flüchtling, der von Station zu Station irrt, bis er fällt, die äußerste Kraftanstrengung des Hochschulstudenten, auszuhalten in seinem Streben nach den Kenntnissen der verlorenen Jahre. Erst in diesem kranken, schmutzigen Dasein begreift man, was es heißt: zu leben. Nichts muß höher eingeschätzt werden als das einzige Leben eines Menschen.“

Kurze Zeit später transzendiert Weiss seine in der Reportage dargestellte Erkenntnis in der Prosa „Die Besiegten“: „Alle sind wir Besiegte. Der Mensch ist besiegt von seiner Zeit. Nur der, der unter den Trümmern nach den zerschlagenen menschlichen Werten sucht, hat Hoffnung auf einen Sieg.“

Für Peter Weiss stellt sich das darniederliegende Deutschland gleich seiner poetischen Insel als ein einzigartiges Laboratorium menschlichen Verhaltens dar. Die Deutschen in ihrer Not sind die Opfer, die vorher ohne weiteres Henker waren und die ohne weiteres sofort wieder Henker werden würden.

 

Die „Knechte des Dämons“

Im Grunde fehlte Weiss der Glaube an die Heilung vom Henker-Opfer-Syndrom. Sein pessimistischer Existenzialismus erkennt das Versagen der Sieger und der Besiegten als ein grundlegendes Wahrheits- bzw. Schuldproblem. Das für ich Entscheidende, das sich nun zeigt, ist die Bestrafung der Deutschen, die überhaupt nicht begreifen wofür. Peter Weiss sucht dem mangenden Schuldgefühl der ehemaligen Henker und dem fordernden Mitleid der Opfer auf die Spur zu kommen. Doch seiner Empathie mit diesen Opfern sind Grenzen gesetzt.

Andere schwedischen Kollegen wie beispielsweise Stig Dagerman in „Deutscher Herbst“ haben das menschliche Laboratorium der Opfer gewordenen Henker mit Empathie beschrieben, mit der nüchternen Anteilnahme eines Reporters. Ihr Befund konnte als Reportage Form werden und bleiben. Peter Weiss muß sich dagegen selbst in die Lage des Opfers versetzen, das er ja lebensgeschichtlich ist. Und das, obwohl er konkret als Sieger, als „Henker“ gekommen ist.

Weiss kann deshalb auch nicht das Opfer-Henker-Muster in der Form der Reportage belassen, er muß die poetische Transzendierung wählen. Weiss muß sich die schwierige Empathie mit dem Opfer, das Henker war, gegen das eigene Verlangen, nun selbst Henker zu werden, erarbeiten. Weiss zwingt sich zur Empathie mit dem Henker, um zu Sympathie mit dem Opfer fähig zu werden.

Weiss sieht unter den trotz der Zerstörung auffindbaren Idyllen überall den Schrecken lauern. Für sein poetisches Ich ist dies unerträglich, deutet es doch auf die Unauflöslichkeit der Pole Henker und Opfer hin: „Die Elendesten, Verdammtesten von allen: die Henker: die niedrigsten Knechte des Dämons. Ich sehe sie in den alten vermoderten Gefängnissen liegen, wo ich selbst einmal in meinem eigenen Kot lag, ich sehe sie auf den alten Folterbänken schlafen, die noch schwarz sind von meinem Blut und dem der Gefährten. Sie schlafen unruhig. Für sie gibt es keine Gnade. Ihren Tod wird niemand beklagen, außer einiger Mütter, die sich ihrer Tränen schämen, die ihre Tränen verbergen.

Diese Gescheiterten, Unerhörten, die plötzlich in einer einzigen Nacht mit unbegrenzter Macht Ausgerüsteten wurden zu den wahrsten Repräsentanten des Zeitalters. Alle Perversion, alle Destruktion, alle Vorurteile, alle Eitelkeit und der ganze Haß und die Raserei gegen den Geist – all dies, was bei anderen umschrieben wurde – durften sie ausleben. Welche Gelegenheit! Und wo auf dieser Erde würde der Mensch nicht nach dieser Gelegenheit greifen? Wo auf dieser Erde schlummert nicht unerweckt der Henker und lauert auf seine Chance? – Überall, wo die Macht als Prinzip gilt, gibt es auch Henker.“

Weit davon entfernt unpolitisch zu sein beschränkte sich die Welterkenntnis des Peter Weiss auf moralische Rebellion. Ihm fehlten die Mittel, seine Beobachtungen eingreifend zu gestalten. Erst zu Beginn der 60er Jahre, nun in deutscher Sprache, führte ihn die Auseinandersetzung u. a. mit Marx zu einer neuen Weltansicht. Sie ließ ihn erkennen, daß die als menschlich begriffene Einheit von Täter und Opfer nur scheinbar sei. Er begriff sie nicht mehr als Ausdruck einer anthropologisch zu nennenden Veranlagung, sondern gebunden an bestimmte Stufen gesellschaftlicher Entwicklung.

Im Stadium seiner Entwicklung zur Zeit der Entstehung des „Marat/Sade“ neigte Weiss zwar immer noch eher der Sicht einer Ambiguität Henker/Opfer im Sade’schen Sinn des Natürlich zu, aber in Marat artikulierte sich schon vernehmbar der Gegenspieler. Erst ein gutes Jahrzehnt später gelang es Weiss, die sich im „Marat/Sade“ noch antithetisch gegenüberstehenden Positionen seiner Protagonisten, hier die politische, da die natürliche Determination, produktiv zu wenden.

In der Romantrilogie „Die Ästhetik des Widerstands“ wurde für Peter Weiss die de Sade’sche Haltung von der gleichzeitigen Existenz des Henkers und des Opfers im Menschen zu einer Frage der Kultur bzw. der Kunst. „Die Antworten der Kunst seien immer ungeheuerlich gewesen, denn, als einzige, wagten sie es, die Thesen der Zeit zu widerlegen, stets seien sie, auch im Schutz der Verkleidung, ihrer Gegenwart vorausgeeilt und hatten den Zerrbildern die Wahrheit entgegengestellt“, referiert Weiss seinen Protagonisten Hodann im Konjunktiv. Die Fortführung im Indikativ signalisiert die Übernahme der Position des Referenten durch den Autor: „Die Worte Wahrheit und Humanität aber waren, wie die Begriffe der Ethik und Moral, durch politischen Mißbrauch fast zu etwas Anrüchigem geworden. (…) Unser Unverständnis …war nicht durch Metaphysisches, Mystisches bedingt gewesen, wir besaßen für das, was das Offenkundige überstieg, nur noch keine Register, unsere Hilflosigkeit war eine vorläufige, hatte unsere ganze Entwicklung doch gezeigt, daß sich aus Ahnungen erst, aus tastenden Untersuchungen konkrete Urteil heranbilden ließen.“

 

In: die horen 166, 37. Jahrgang, 2. Quartal 1992, S. 118 - 124