
© V. Heigenmooser 2025
Bei meinem ersten Besuch der Stadt Hof an der Saale seit meiner Geburt bin ich wieder auf den großartigen Jean Paul gestoßen, der in Hof sein Abitur abgelegt hat. Bei dieser Gelegenheit hat er eine Rede "Über den Nutzen und Schaden der Erfindung neuer Wahrheiten" gehalten. Das hat mich veranlasst, in seinen Jugendwerken zu stöbern. Ich muss sagen, mit beträchtlichem Gewinn. Und mit großer Bewunderung für die Denkleistung des ganz jungen Manns. Das, was er vor mehr als 200 Jahren über Wahrheit und Irrtum geschrieben hat, ist so in unsere Zeit gesprochen, dass ich es angeraten halte, diesen Text (leichtest gekürzt) hier der mir geneigten Leserschaft zur Kenntnis zu geben:
Der 16-jährige Jean Paul (damals noch Johann Paul Friedrich Richter) mit einer seiner
Übungen im Denken
II. Untersuchung
Von der Harmonie zwischen unsern wahren und irrigen Säzzen
Alle Wahrheiten stehen in einer unauflöslichen Verbindung mit einander. Läugnest du eine: so läugnest du tausende zugleich, so veränderst du alle im Reiche der Wahrheiten. Dies ist nie bezweifelt worden. Aber ist alles Wahrheit im Menschen - alles Harmonie derselben? (…) Aber wenn Harmonie das Wesen der Wahrheit ist - wenn der Mensch alle seine Säzze als wahr fühlt - wobei offenbar wahre mit irrigen vermengt sind - wie wil er Wahrheit und Nichtwahrheit vereinigen.
Obiektive genommen, lassen sich nie diese zwei Dinge in Harmonie bringen - hier hat man Recht. Aber in einem gewissen Subiekte können sie doch Harmonie sein. Doch nur in Beziehung auf dies nämliche Subiekt. Ein ieder Mensch, er glaube was er wil, glaubt ein Ganzes - und eben das, was er in sich als Widerspruch findet, ist auch ein Ganzes. Er wird sich doch nicht selbsten bewust sein, daß er irt: sonsten müst' er ja den Irthum fahren lassen. Ich kan so schliessen: weil ieder Mensch keinen Irthum als Irthum glaubt, und also sein ganzer Glaub' aus lauter ihm wahr scheinenden Säzzen besteht: so mus dieses Glauben eine Zusammenkettung haben, weil Wahrheit alzeit in Verbindung steht. Nun besteht des Menschen Ideensystem aus einem Gemische von wahren und falschen Säzzen. Er mus also die Lükke, die's Falsche unter dem Wahren macht, ausfüllen: wenn er nicht gleich seinen Irthum fühlen sol. Aber die Art und Weise, wie er's Wahre und Falsche verbindet - - diese weis ich noch nicht. Die Untersuchung ist aber nicht ganz unnüz. Denn es folgen diese wichtigen Säzze daraus:
Da ieder Irrende seinen Irthum für Wahrheit hält: so ist's Pflicht für uns, dem Irrenden mit aller Nachsicht zu begegnen. Denn er ist ia eben so tugendhaft wie der, der wahr glaubt: nur die Form ist verschieden. -
Wenn wir Irthümer bekämpfen wollen: so müssen wir nicht etwan gegen einen einzigen Saz einige Gründe vorbringen; sondern wir müssen mehrere angreifen, weil sie mit einander verbunden stehen - weil einer den andern schüzt. Daher sind Personen, die ganz verschiednen Glauben haben, schwer von ihren Meinungen abzubringen. Denn man mus ihr ganzes Wahrheitssystem, ihren ganzen Gedankenbau umstürzen - denn sie verbinden mit ieder wahren Idee eine falsche Nebenidee - sie modifiziren die wahren nach den falschen Säzzen. –
August 1779.
in: Jean Paul, Sämtliche Werke, Abt. II, Bd. I, Jugendwerke, hrsgg. v. Norbert Miller unter Mitwirkung von Wilhelm Schmidt-Biggemann, Frankfurt/M 2001 (= Hanser 1974), 1996, S. 39f