Gedanken zur gesellschaftlichen Wirklichkeitsverweigerung

Zu den grundlegenden Probleme unserer Zeit gehört, dass entweder die Klimakrise verleugnet oder sie als im Grunde zu vernachlässigendes Problem gesehen wird, für das sich, wenn es darauf ankomme, schon eine Lösung finden lasse. Denn angesichts unbestreitbarer ökonomischer und sozialer Schwierigkeiten gehe es erst einmal darum, den westlichen konsumorientierten Lebensstil mit allem, was dazugehört, wie beispielsweise den Motorisierten Individualverkehr (MIV) oder die Eigenheimideologie zu verteidigen oder wiederherzustellen. Dieser angeblich großartige Lebensstil, der geprägt ist von der Haltung, „unsere Kinder sollen es einmal (materiell) besser haben“, sei ja vor allem von irgendwelchen woken, diversen, queeren, grünen und linken Ideologien gefährdet. Wenn es denn so einfach wäre. 

 

Viele dieser von den Zeitläuften verunsicherten Menschen, die jemanden wie den orangenen Mann oder einen Björn Höcke bewundern, glauben, es gebe immer eine unmittelbare Lösung von Problemen, wenn sie konkret auftreten. Das ist deren Versprechen. Also wenn man z. B. undichte Fenster hat, versucht man das Problem verhältnismäßig zuverlässig zu lösen, indem man das Fenster abdichtet oder austauscht. Dass man alle Probleme auf diese Weise lösen könnte, ist ein so manifester Glaube, dass diejenigen, die auf die Gefahren und die Ursachen der Klimakrise hinweisen, oft ins Leere argumentieren, weil das ein Problem ist, das man nicht einfach durch jeweils findige Lösungen wirkungsvoll bekämpfen könnte. Wer glaubt, dass Fracking, CO2-Ausstoß, Verbrauch fossiler Energie erstmal gar nicht so schlimm seien, sondern Einkommen, Arbeitsplätze und Gewinne sicherten, denn das sei jetzt wichtig, glaubt auch, dass, wenn dadurch konkrete Probleme entstünden, es sicher irgendwann situationsgerechte Lösungen geben werde, und mit denen sich dann auch noch Geld verdienen lasse. Typisch für so eine Haltung ist die von Alice Weidel, um nicht den orangenen Menschen zu zitieren, die meint, ein Beweis für den „monokausalen“ Einfluss des Menschen auf das Klima sei noch nicht erbracht. Das ist natürlich eine Irreführung. Aber es fällt ihr und vielen anderen Menschen schwer, nicht in dem einfachen Schema Ursache–Wirking zu denken. Dass Probleme wie die Klimakrise nicht durch Einzelmaßnahmen beseitigt werden können, ist für viele Menschen nur schwer zu begreifen. Das kann man sozusagen großflächig in den USA, und nicht nur dort, beobachten. Wenn beispielsweise die Regeln für Abgasnormen für Fahrzeuge, Fabriken und Kraftwerke, die auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse getroffen wurden, um die Emission von Treibhausgasen wie Kohlendioxid und Methan zu reduzieren, jetzt durch die aktuelle Regierung aufgehoben werden, weil das die wirtschaftliche Dynamik störe, dann wird eben nach der beliebten Methode, mir ist das Hemd näher als die Hose verfahren. Und wenn nur in Kategorien von sozusagen monokausal verursachten Schäden denkt, glaubt man, dass der Mensch schon immer so erfinderisch gewesen sei, Lösungen entwickeln zu können. Leider geht dieses Verhalten in die Hose, wie wir immer häufiger sehen und erleben können. Extreme Wetterereignisse lassen sich eben nicht durch einige punktuelle Lösungen verhindern, wie nicht nur Konservative und Rechtsradikale glauben und hoffen. Sondern nur durch eine Umkehr des Verhaltens, an das wir uns im „Westen“, sprich in den hochkapitalistischen Konsumgesellschaften gewöhnt haben. Die immer öfter artikulierten Forderungen nach einer Änderung des sog. westlichen, ressourcenverbrauchenden Lebensstils erzeugen Abwehrreflexe, die, wie oft, mit der Angst vor Neuem und Unbekanntem einhergehen. Das ist das Gebräu, mit dem sich alle aufgeklärten und (selbst-)kritischen Menschen auseinandersetzen müssen. 

 

Das ist nicht einfach. Denn, wie der sog. Zukunftsforscher Horst W. Opaschowski 2001 schrieb: „Keine Gesellschaft ist mehr allein in der Lage, ihre Zukunft zu sichern. Nur eine weltweite Partnerschaft kann verhindern, dass die Kluft zwischen Arm und Reich noch größer wird. Insbesondere die westlichen Industrieländer müssen ihren Lebensstil überdenken und neue Maßstäbe für Lebensqualität entwickeln.“[1] Weil sich sonst immer mehr Menschen wegen der unter kolonialistischen Ausbeutung leidenden Heimat durch „den Westen“ auf den oft gefahrenvollen Weg in den sogenannten Westen mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft machen müssen. Und es kommt noch hinzu, dass immer mehr Menschen in Gegenden leben, die durch dauerhafte Hitze immer unbewohnbarer werden. Doch diese Wirklichkeit produziert in den „westlichen Industrieländern“ mehr Abwehr als positive Energie. Die spannende und drängende Frage ist, wie es gelingen kann, eine positive Energie für eine menschen- und weltverträgliche Lebensweise zu mobilisieren. 

 

Um hier einen positive Wende herbeizuführen, müsste die Angst, „die Seelenwirklichkeit der mittleren Lagen in unserer Gesellschaft“[2] überwunden werden. Denn „Angst haben diejenigen, die was zu verlieren haben“[3]. Und das sind im Wesentlichen diejenigen, die man gemeinhin in den westlichen (ehemaligen) Industrieländern dem Mittelstand zurechnet. Wobei das, was man als „Mittelstand“ bezeichnet, durchaus einer Dynamik unterliegt, die nicht zu unterschätzen ist, wie die Forschungen von Andreas Reckwitz sehr deutlich machen: „Die postindustrielle Ökonomie, die Bildungsexpansion und der Wertewandel lassen in allen westlichen Gesellschaften die nivellierte Mittelstandsgesellschaft erodieren. An ihre Stelle tritt sukzessive eine dreigliedrige Sozialstruktur, bestehend aus neuer Mittelklasse, neuer Unterklasse und – zwischen ihnen – der alten Mittelklasse, der Erbin der nivellierten Mittelstandsgesellschaft. Hinzu kommt on top die kleine Oberklasse der Superreichen.“[4] Das erklärt, warum neben den Ängsten, sozial in die Unterklasse abzustürzen, das Festhalten an hergebrachten gesellschaftlichen Verhältnissen so existentiell erscheint. Denn das ist ja heute jederzeit sichtbar: Neben der postindustriellen Umgestaltungsdynamik werden die Angehörigen dieser neuen Klassen mit den damit verbundenen Lebensweisen nun auch noch von der Klimakrise bedroht. Deshalb klammert man sich in der alten Mittelklasse an die eigentlich abstruse Hoffnung, vielleicht und eventuell doch in die Oberklasse aufzusteigen. Und verteidigt deshalb einerseits die alten Strukturen und hofft andererseits mit anarchokapitalistischen Methoden eine ziemlich schräge Aufstiegshoffnung nähren zu können. Eine große Illusion.

 

Die politischen Parteien der alten „nivellierten Mittelstandgesellschaft“ halten unter diesen obwaltenden Umständen an Positionen fest, die bereits obsolet sind, denn „der westliche Industriearbeiter mit seiner gesellschaftlich geschätzten körperlichen »harten Arbeit«, mit seinem staatlich-gewerkschaftlich gesicherten Mittelklasse-Lebensstandard und verlässlichem Normalarbeitsverhältnis ist im 21. Jahrhundert […] zu einer nahezu aussterbenden Spezies geworden. Die Ökonomie der Spätmoderne stellt nur noch in geringem Umfang jene Arbeitsplätze zur Verfügung, die den Wohlstand der Mittelklasse der industriellen Moderne einstmals sicherten.“[5] Diese Erkenntnis muss erst einmal verdaut werden. Das ist nicht leicht. Und so halten die traditionellen Parteien „der demokratischen Mitte“ an einem „staatlich-gewerkschaftlich gesicherten Mittelklasse-Lebensstandard“ fest. Sie stellen sich bisher nicht auf notwendige neue umweltverträgliche und sozial ausbalancierte Lebens- und Arbeitsformen ein, die neue, nicht zuletzt auch nichtmaterielle Benefits bieten. Wenn sie sich nicht umstellen, dürfte ihre Zeit bald abgelaufen zu sein. Das gilt vor allem für die Sozialdemokratie und in Teilen auch für die Grünen, aber auch in gewisser Weise für die Linke, die immer noch ihr Weltbild auf traditionelle Klassengesellschaftkategorien ausgerichtet hat. Die konservativen Parteien wie die CDU/CSU stehen an einem Scheideweg, an dem sie sich entscheiden müssen, die alte industriell-fordistische Produktionsgesellschaft, in der Gewinn ohne Rücksicht auf ökologische und soziale Verluste der Maßstab des Handelns ist, wiederherzustellen versuchen, wie es die MAGA-Bewegung in den USA oder die AfD in der Bundesrepublik auf bestürzende Weise tun bzw. wollen, oder eine durchaus wertebasierte, die natürlichen Lebensgrundlagen schützende postindustrielle Gesellschaft anzustreben. Für alle gilt, die Angst vieler Menschen ernst zu nehmen und sie einzuladen, an ihrer Überwindung gemeinsam zu arbeiten und positive Energie für neue Lebensweisen zu entwickeln. Dafür braucht es Kraft und Mut, sich der Wirklichkeit zu stellen. In einer „Erlebnisgesellschaft“ (Gerhard Schulze) kein leichtes Unterfangen. Aber notwendig.



[1] Horst W. Opaschowski, Die westliche Wertekultur auf dem Prüfstand, Aus Politik und Zeitgeschichte B 52 - 53/2001, S. 8

[2] Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, Hamburger Edition 2014, S. 60

[3] ebenda

[4] Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Suhrkamp Berlin 2019, e-book

[5] ebenda