In der gegenwärtigen politischen Situation im (von uns aus gesehen) Nahen Osten, in der es aus meiner Sicht berechtigt viel Kritik an der in Teilen rechtsradikalen und religiös fundamentalistischen Regierung des Staats Israel gibt, bricht auf krude Weise wieder ein Antisemitismus auf, den ich im Wesentlichen vor allem in Deutschland doch kleingehalten gesehen habe. Ein beträchtlicher Teil der Wurzeln des Antisemitismus reicht bis ins erste Jahrhundert unserer Zeit, wo eine Rivalität zwischen jüdischer und (jüdisch-)christlicher Religion entstand. Im Laufe der Zeit immer wieder mit schrecklichen Folgen für Menschen jüdischen Glaubens. Sich der Herkunft des Antisemitismus zu erinnern, bin ich sozusagen tief in meine Vergangenheit als Theologe gestiegen, um diese verhängnisvolle Entwicklung zu verstehen. Und um Klarheit darüber zu bekommen, wie absurd und im Grunde antichristlich der Antisemitismus ist.
Einer der wichtigsten Texte zur Entstehung des Antisemitismus steht im Matthäus-Evangelium mit dem sogenannten Blutruf. In der Übersetzung von Walter Jens lautet dieser Abschnitt so:
„Aber die Großen Priester und Mächtigen überredeten das Volk: ‚Fordert, daß er Barrabas freigibt und Jesus hinrichten läßt!‘, und als der Statthalter fragte: ‚Welchen von den beiden soll ich begnadigen?‘ riefen sie:
‚Barrabas!‘
Pilatus fragte: ‚Und Jesus, der >der Messias< genannt wird – wohin mit ihm?‘
Da schrien sie alle: ‚Ans Kreuz!‘
Pilatus fragte: ‚Warum? Was hat er Böses getan?‘
Da riefen sie noch lauter und brüllten: ‚Ans Kreuz!‘
Pilatus sah, daß er nichts mehr ausrichten konnte – der Lärm schwoll immer mehr an, und die Unruhe wuchs -, nahm er Wasser, wusch im Angesicht des Volkes seine Hände und sagte: ‚Kein Blut ist an ihnen, von diesem Mann! Ihr aber: seht nun selber zu!‘
Da antwortete ihm das ganze Volk, und alle sagten: ‚Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!‘
Dieser nur im Matthäus-Evangelium überlieferte Vers führte dazu, dass Christinnen und Christen vieler Generationen jüdische Gläubige für den Tod Jesu verantwortlich machten. Ja, man könnte sogar sagen, dass dieser „Schrei des Blutes“ oder „Blutruf“, wie er vielfach genannt wurde, eine wesentliche Quelle des Antisemitismus über viele Jahrhunderte hindurch darstellt.
„Eine lange christliche Tradition fasst die Ablehnung Jesu als eine Schuld gegenüber Gott auf, die schon in dieser Welt eine gerechte Strafe nach sich zieht. Diese Interpretation zieht sich bis in den modernen Antisemitismus hinein, der seinen theologischen Niederschlag im von Walter Grundmann während der Nazizeit geleiteten Institut für die ‚Entjudung‘ der Bibel fand.“ (Boris Repschinski, Jüdische Kollektivschuld am Tod Jesu? S. 202)
Historisch-kritisch betrachtet, ist die Interpretation, dass mit der Forderung nach Jesu Hinrichtung am Kreuz alle jüdischen Religionsangehörigen zu allen Zeiten und an allen Orten Schuld am Tod Jesu auf sich geladen hätten, falsch. Sie ist auch theologisch falsch, weil ja der Opfertod Jesu notwendig war, um der Erlösung durch Gott teilhaftig werden zu können.
Man muss sich die Zeit, in der das Matthäus-Evangelium verschriftlicht wurde, so vorstellen, dass viele der Menschen, die sich von der Botschaft Jesu und seiner Jünger und Apostel, allen voran natürlich der Botschaft, die der Apostel Paulus formulierte, angezogen fühlten, aus dem Judentum stammten, so wie Paulus und die Jünger und anderen Apostel selbst. Das Christentum im ersten Jahrhundert unserer Zeit bestand aus sogenannten Heiden-Christen und sogenannten Juden-Christen. Gerade für die Christen, die sich der Tradition des Judentums verpflichtet fühlten, war es wichtig, dass die neue Botschaft und der Opfertod Jesu die Einlösung der Verheißungen der Tora bedeutete. Das führte dann dazu, dass die jüdische Tora für die Christenheit zum Alten Testament und damit bedeutender Bestandteil der christlichen Botschaft wurde. Vor allem das Matthäus-Evangelium stellte sich in die jüdische Tradition. In ihm kommt eine geradezu selbstverständliche Kenntnis der jüdischen Schriften und Tradition und des jüdischen Glaubens zum Ausdruck. Das zeigt sich auch bei dem Vers mit dem „Blutruf“, der sich auf verschiedene Stellen im Alten Testament bezog. Zudem diente er in diesem Kontext als Aussage über die Erfüllung von Prophetenworten, wie Matthäus das immer wieder deutlich machte.
„Mehr als jeder andere Text des Neuen Testaments bezieht sich das Matthäusevangelium mit ca. 50 Zitaten und Anspielungen auf die Schriften Israels, also auf das in christlicher Sicht sogenannte Alte Testament und beschreibt Jesus als die Erfüllung der Tora und der Propheten. Immer wieder zeigt Jesus, wie die jüdischen Gesetze zu verstehen und auf die Lebenssituation einer frühchristlichen Gemeinde anzuwenden sind, die sowohl aus jüdischen als auch aus nichtjüdischen Mitgliedern besteht.“ (vgl. Das Neue Testament – jüdisch erklärt))
Dass Matthäus also den sog. Blutruf aufgenommen hat, anders als die beiden anderen synoptischen Evangelien von Lukas und Markus, dürfte ein Reflex auf die für die jüdische Welt erschütternden Ereignisse von 70 u.Z. sein, als die römische Besatzungsmacht Jerusalem und die Manifestation des jüdischen Glaubens, den Tempel zerstört hatte: Den jüdischen Menschen dieser Zeit sollte deutlich werden, dass sie, die den Tod Jesu lautstark gefordert hatten und damit sozusagen Verantwortung für die Hinrichtung übernehmen wollten, umgehend bestraft wurden, nach dem Motto: Seht, das habt ihr nun davon, dass ihr in Jesus nicht den Messias sehen wolltet! Im Verständnis der Zeit wurde so die doch im Grunde leichtfertige Bereitschaft, in der aufgepeitschten Atmosphäre einer gesellschaftlich und religiös stark polarisierten Zeit, die Schuld am Tod Jesu zu übernehmen, eingeordnet. Es sollte klar werden, dass die Zerstörung der jüdischen theokratischen Institute und die „Zerstreuung“ in die ganze Welt sozusagen die Sühne für die Schuld des jüdischen Volks war.
Diese Passage richtete sich also vor allem an die jüdische Welt, sich zum Christentum, das sich nach Matthäus in der jüdischen Tradition stehend sah, zu bekehren und zu bekennen. Man wird annehmen dürfen, dass dieser Blutruf damit als Teil der religiösen Auseinandersetzung des frühen Christentums mit dem Judentum verstanden werden muss. Denn, wie Aaron M. Gale in seiner Einleitung zum Matthäus-Evangelium in „Das Neue Testament – jüdisch erklärt“, betont, gab es damals folgende Situation:
„Nach dem Ersten Jüdischen Krieg und der Tempelzerstörung wuchs die Bedeutung der Pharisäer – der Vorläufer des rabbinischen Judentums – als Leitungsfiguren in der jüdischen Gemeinde zusehends. Das Matthäusevangelium gewährt einen Blick in die Spannungen, die es in den letzten Jahrzehnten des 1. Jahrhunderts gab zwischen den Pharisäern und ihren Anhängern auf der einen Seite und den jüdischen und nichtjüdischen Anhängern Jesu, die ihn als Retter/Messias bekannten, auf der anderen Seite. Beide Gruppen beanspruchten für sich, Erben Abrahams und im Besitz der rechten Interpretation der Schriften Israels zu sein.“
Diese historisch-kritische Betrachtung kann gut ergänzt werden durch eine religiös-theologische, die Andreas Bedenbender in seinen Anmerkungen zur Matthäus-Passion anstellt, wenn er schreibt:
„Der Satz »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder« ist von größtem Gewicht. Mit Bedacht wird er von Matthäus nicht der kleinen Clique von Hohenpriestern und Ältesten in den Mund gelegt, und »das ganze Volk«, das hier spricht, ist auch kein hergelaufener Pöbel. Im neutestamentlichen Griechisch gibt es eine klare Unterscheidung: ein Volksauflauf, eine Menschenmenge – das ist ein ochlos. Das Gottesvolk hingegen, Israel, wird als laos bezeichnet. Und so war es zwar eine Menschenmenge, ein ochlos, der sich vor Pilatus versammelt hatte, um den Barabbas freizubitten (V. 15.20; auch V. 24); als es aber darum geht, die Folgen des Todes Jesu auf sich zu nehmen, da überhöht Matthäus die Situation und spricht auf einmal von laos. Die Menge vor Pilatus handelt stellvertretend für das ganze Volk Israel. Die Absicht des Matthäus ist aber gerade nicht, Israel dadurch theologisch das Genick zu brechen. Der nach Art einer Rechtsformel gehaltene Satz ist vielmehr von feinem Doppelsinn. Auf der Textebene mag das Volk meinen, sich von Jesus zu distanzieren. Paradoxerweise aber wird gerade so das Vergebungsgeschehen in Gang setzt. Und folglich stellt der Ruf, seinem Wortlaut zum Trotz, eine einzigartige Gemeinschaft her zwischen jenen, die um dieses Rufes willen der Vergebung bedürfen, und dem, dessen Tod die Vergebung bewirkt. Matthäus schreibt für seine Gemeinde, damit sie höre und verstehe, was der Volksmenge, über die er schreibt, verborgen geblieben ist: Das Blut Jesu hat versöhnende Wirkung. Indem es auf Israel lastet, kann es Israel auch zugleich vor Gott reinigen.“ (Andreas Bedenbender)
In eine ähnliche Richtung geht die Interpretation des katholischen Neutestamentlers Boris Repschinski, der zusammenfasst:
„Im Blutruf kommen verschiedene Erzählstränge des Evangeliums zusammen. Die ursprüngliche Aufgabe Jesu, die Erlösung des Volkes, wird in Erinnerung gerufen. Auch das Blut des Bundes, mit dem das Volk am Sinai besprengt wurde und das Jesus beim letzten Abendmahl erwähnt hat, findet einen Nachhall. Und damit ist der Blutruf nur auf der oberflächlichen Ebene das Moment, das die Kreuzigung in Gang setzt. Auf der theologischen Ebene ist der Blutruf für das Evangelium der Ort, an dem das ganze Volk erkennt, dass das Opfer Jesu notwendig ist, um diesen Bund zu schließen. Jesu Aufgabe erfüllt sich, indem das Blut des Bundes in seinem Blut auf das Volk Israel und seine Kinder kommt.“ (Repschinkski, Bibel falsch verstanden, S. 204)
Theologisch betrachtet ist also die gegen das Judentum gerichtete Interpretation im Grunde absurd, weil ja gerade der Opfertod Jesu für die Vergebung der Sünden steht und selbstredend auch für die, die diesen Opfertod forderten, gelten muss. Denn selbst denjenigen, die die Hinrichtung Jesu, des Messias, gefordert hatten, sind durch den Opfertod von der damit aufgeladenen Schuld befreit („wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“). Wenn dennoch die (Fehl-)Interpretation sich schon im 1. Jahrhundert ausbreiten konnte, lag das zweifellos auch an der Konkurrenzsituation von Judentum und Christentum. Denn die jüdische Religion war zu dieser Zeit höchst erfolgreich und verbreitete sich in vielen Teilen der damaligen Welt. Dagegen musste sich das junge Christentum behaupten. Dass man sich dazu auch unfeiner Mittel bediente, gehört bedauerlicherweise zu den offensichtlichen Konstanten menschlichen Verhaltens, gegen das ja gerade beide Religionen anzugehen versuchen. Einen sehr sichtbaren und wichtigen Kontrapunkt zu der antisemitischen Interpretation setzte 1965 die römisch-katholische Kirche mit dem 2. Vatikanischen Konzil und der Erklärung „Nostra Aetate“ über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, insbesondere zum Islam („Mit Hochachtung betrachtet die Kirche auch die Muslim, die den alleinigen Gott anbeten, den lebendigen und in sich seienden, barmherzigen und allmächtigen, den Schöpfer Himmels und der Erde , der zu den Menschen gesprochen hat.“) und zur jüdischen Religion („Da also das Christen und Juden gemeinsame geistliche Erbe so reich ist, will die Heilige Synode die gegenseitige Kenntnis und Achtung fördern, die vor allem die Frucht biblischer und theologischer Studien sowie des brüderlichen Gespräches ist. Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben, kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen.“).
Fazit: der vor allem im Christentum wurzelnde und sich ausbreitende Antisemitismus beruht auf einer, quasi politisch motivierten, Fehlinterpretation, die für manche Unbill der Zeiten einen Sündenbock (übrigens ein aus der jüdischen Religion stammendes Symbol!, vgl. Lev 16,8–21) benötigt. Es wird Zeit, sich von dieser Fehlinterpretation zu befreien.
Literatur:
Walter Jens, am anfang der stall, am ende der galgen: jesus von nazareth, Jesus von Nazareth, seine Geschichte nach Matthäus, Kreuz Verlag Stuttgart 1972, 123 S
Andreas Bedenbender, »Sein Blut komme über uns ...« Überlegungen zum Passionstext Matthäus 27,1–26 in: TuK 87, 3/2000, S. 32–48,
https://texteundkontexte.de/wp-content/uploads/2016/04/Bedenbender87.pdf
Boris Repschinski, Jüdische Kollektivschuld am Tod Jesu? in: Thomas Hieke/ Konrad Huber (Hrsg.), Bibel verstanden. Hartnäckige Fehldeutungen biblischer Texte erklärt, Verlag Katholisches Bibelwerk Stuttgart 2020, S. 202
Das Neue Testament – jüdisch erklärt, Lutherübersetzung. Herausgegeben von Wolfgang Kraus, Michael Tilly und Axel Töllner, unter Mitarbeit von Jan Raithel und Florian Voss, übersetzt von Monika Müller und Jan Raithel; englische Ausgabe herausgegeben von Amy-Jill Levine und Marc Zvi Brettler, Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart 2022 (e-book)
Erklärung NOSTRA AETATE, über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen (https://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_decl_19651028_nostra-aetate_ge.html)
Gerald Beyrodt, Jüdisches Sühne-Ritual, Das Missverständnis vom „Sündenbock“, DLF 2021
(https://www.deutschlandfunkkultur.de/juedisches-suehne-ritual-das-missverstaendnis-vom-100.html)